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„Demütigung ist schlimmer als körperlicher Schmerz“

Predigt von Bischof Dr. Franz Jung am Karfreitag, 15. April 2022, im Würzburger Kiliansdom

Der Karfreitag als Erinnerung an die Beschämung von Menschen

Das Gefühl der Scham und des Beschämt-Werdens ist der rote Faden durch die Heiligen Drei Tage in diesem Jahr. Die Passion Jesu Christi bietet uns viele Beispiele dafür, wie Menschen beschämt werden und wie diese Beschämung Existenzen vernichten kann.

Die Passion Jesu als einzige Beschämung

Das Leiden und Sterben Jesu ist nichts anderes als eine einzige große Beschämung. Immer wieder überkommen die Leser und Hörer der Passion Gefühle der Beklemmung. Denn wir werden Zeugen, wie die Beschämung sich immer weiter steigert und scheinbar keine Grenzen mehr kennt, sobald ihre Dynamik einmal entfesselt ist.

Das muss Jesus in aller Härte erfahren und in allen nur denkbaren Steigerungsformen. Zuerst erfolgt seine Gefangennahme aufgrund eines Verrates aus dem engsten Kreis der Vertrauten. Jesus wird vorgeführt. Er muss einsehen, dass er sich auf niemanden mehr verlassen kann. Die Isolation in der Gefangenschaft markiert ihn als Ausgestoßenen, der nirgendwo mehr dazugehört. Beschämung durch Ausschluss.

Nach der Gefangennahme wird Jesus immer neu seine Ohnmacht genüsslich vor Augen geführt. Man verhört ihn und lässt ihn nicht wirklich zu Wort kommen. Man ohrfeigt ihn, um ihn mundtot zu machen, aber nicht, weil er die Unwahrheit gesagt hätte. Beschämung durch die Erfahrung eigener Ohnmacht.

Man treibt seinen Spott mit ihm und macht ihn lächerlich. Man nimmt ihm die Kleider ab. Schutzlos wird er den Blicken seiner Peiniger preisgegeben. Beschämung durch gezielte Grenzüberschreitung und durch Verletzung der Intimität.

Wie eine Spielfigur wird er willenlos zwischen dem Hohepriester und Pontius Pilatus hin- und hergeschoben. Man kostet es aus, dass er sich nicht wehren kann. Der gewaltsame und ehrlose Tod ist im Letzten nur die logische Konsequenz systematischer Erniedrigung. Beschämung durch Schutzlosigkeit.

Der traurige Höhepunkt ist erreicht, wenn es den Peinigern gelingt, alle Verantwortung für das grausame Spiel beim Beschämten selbst zu verorten. Die Titulierung Jesu als „König der Juden“ dient genau diesem Ziel. Denn der größte Triumph aller Verfolger ist es, wenn der Gedemütigte das ungerechte Urteil verinnerlicht und so seinen eigenen Unwert bestätigt. Erst dann wird das Opfer auch innerlich gebrochen und nicht nur äußerlich erniedrigt. Die Täter-Opfer-Umkehr wird perfekt.

Demütigung ist schlimmer als körperlicher Schmerz, sagt das Sprichwort. Das kann jeder nachvollziehen. Denn körperlicher Schmerz ist meist lokal begrenzt. Die Demütigung aber zielt auf die ganze Person und ihre Vernichtung.

Der Gefühlstausch von Scham durch Aggression

Existenzielle Scham ist unerträglich. Deshalb tauschen Menschen das Gefühl der Scham aus gegen andere Gefühle. Scham wird gegen Aggression ausgetauscht. Die erlebte Ohnmacht weicht der Gewalt. Erniedrigung macht aggressiv. Auf diesem Prinzip basieren alle menschenverachtenden militärischen Ausbildungen dieser Welt. Wer erniedrigt wurde, sucht seine Ehre wiederherzustellen, indem er andere quält oder andere seine Übermacht spüren lässt. Nur so versteht man, wie eine entfesselte Soldateska völlig enthemmt Gräueltaten verüben kann, die eigentlich undenkbar erscheinen.

Ganze Kriege hat man mit diesem Gefühlstausch erklärt. Auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine erscheint als ein einziger großer Kompensationsversuch. Die einstige Weltmacht Russland sieht sich gedemütigt. Verzweifelt versucht sie ihre Ehre wiederherzustellen durch die Vernichtung anderer, vorzugsweise Schwächerer, die ihr nichts entgegenzusetzen haben.

Scham wird getauscht gegen Arroganz und Allmachtsphantasien

Scham wird aber auch ersetzt durch Arroganz und Allmachtsphantasien. So ergeht es Pontius Pilatus. Weil er diesem Jesus nicht richtig beikommen kann, spürt er seine Machtlosigkeit. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Er versucht es mit einer Drohung. „Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen?“ Als auch dieser Versuch der Einschüchterung Jesu fehlschlägt, vermag er sich nur noch dadurch zu retten, dass er den Angeklagten in den sicheren Tod schickt, auch wenn er von dessen Schuld nicht wirklich überzeugt ist. Gesichtswahrung und Schamabwehr gehen vor Wahrheit und Gerechtigkeit.

Scham und Flucht

Oftmals aber hilft nur noch die Flucht vor der Scham. So entziehen sich die Jünger Jesu dieser für sie unerträglichen Situation, indem sie ihren Herrn und Meister alleine lassen. Petrus flüchtet sich in die Lüge, diesen Jesus nie gesehen zu haben und diesen Menschen überhaupt nicht zu kennen. Schamabwehr durch Verleugnung. Wie sagten die Kirchenväter: Aus Angst vor dem Tod verleugnet Petrus das Leben. Er kann sich nur entziehen, indem er seine eigene Identität zu verschleiern sucht und eine Maske aufsetzt in der Hoffnung, dass ihn keiner mehr erkennt.

Scham und Suizid

Wird die Scham im Leben übergroß und sieht man für sich keine Fluchtmöglichkeit mehr, führt sie nicht selten in den Suizid. Die letzte Form, sich vor sich selbst zu verstecken und sich den fremden Blicken zu entziehen, ist der Selbstmord. Auch davon erzählt die Passion. Judas habe es nicht mehr ertragen, mit der eigenen Schuld zu leben. Die Scham über das eigene Versagen und die Hilflosigkeit im Umgang mit seiner Schuld treiben ihn in den Freitod. Auch das gibt es: „Todesursache Beschämung“.

Beschämung von Menschen in der Gesellschaft heute

Tagtäglich werden wir heute Zeugen von Beschämung und Erniedrigung. Die sozialen Netzwerke bieten dazu die ideale Plattform. In denkbar einfacher Weise, teilweise sogar im Schutz der Anonymität, werden Menschen ihrer Würde beraubt: die echten oder vermeintlichen Umweltsünder, diejenigen, die zu viel Fleisch konsumieren, die zu große Autos fahren, die zu viele Flugmeilen haben, die eine abweichende politische Meinung vertreten oder deren Body-Mass-Index nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht. Die Grenze zwischen einer angezeigten sachlichen Diskussion und dem Angriff auf die Person wird dabei schnell überschritten. Da die sozialen Netzwerke zur Differenzierung kaum geeignet sind, laden sie zu pauschalen Verurteilungen geradezu ein. Wenn die Kommentarfunktion dann nur noch „Daumen hoch“ oder „Daumen runter“ kennt, dann erinnert das in erschreckender Weise an das Votum des Kaisers am Ende des Gladiatorenkampfs. Das Leben wird zur Arena, in der es nur noch darum geht, dem drohenden sozialen Tod zu entkommen.

Kirche und Beschämung

Im Blick auf das Thema Scham können aber auch wir als Kirche nur Karfreitag feiern, wenn wir uns unserer eigenen Schuldgeschichte stellen. Die letzten Jahre haben gezeigt, wie oft Beschämung als Form der Disziplinierung und der Einschärfung von Normen im Raum der Kirche üblich war. Menschen wurden bloßgestellt wegen konfessionsverbindender Ehen. Uneheliche Kinder wurden als minderwertig betrachtet und herabwürdigend behandelt. Sexuelle Orientierung von Menschen wurde zum Anlass von Ausgrenzung und Beschämung. Frauen erfuhren Demütigung und Ausgrenzung.

Der Missbrauchsskandal schließlich konfrontiert uns in unerträglicher Weise mit dem Gefühl der Scham und des Beschämt-Werdens. Aus Berichten von Betroffenen weiß ich, wie sie sich durch die Übergriffe im Innersten beschmutzt und beschämt fühlen. Und wie schwer es ihnen fällt, überhaupt darüber mit jemandem zu reden, auch mit Vertretern der Kirche. Denn sie schämen sich ihrer Scham. Ein übermächtiges Gefühl, das für nicht wenige Betroffene in Sucht, inneren Rückzug und Depression führt aus dem Wunsch heraus, der eigenen existenziellen Beschämung zu entkommen und den Missbrauch irgendwie zu überleben. Auch das ist eine Seite der Kirche, die uns nicht nur mit Scham erfüllt, sondern auch dazu zwingt, darüber nachzudenken, was zu tun ist, damit solches sich nicht wiederholt.

Die Christen der ersten Jahrhunderte schämten sich des Kreuzes

Wenn wir heute am Karfreitag über Scham und Beschämung nachdenken, sei auch erwähnt, dass sich die ersten Christen schämten, das Kreuz ihres Herrn Jesus Christus in der Öffentlichkeit zu zeigen. Für zu anstößig hielt man dieses Zeichen, das die entehrende Hinrichtung ihres Stifters zeigte.

Erst ab dem vierten Jahrhundert, ab dem Zeitpunkt also, an dem das Christentum zur erlaubten Religion und dann zur Staatsreligion wurde, wagte man in der religiösen Kunst, das Kreuz zu zeigen. Noch einmal dauerte es bis ins 14. Jahrhundert, dem Zeitalter der Gotik, bis man sich auch traute, den geschundenen Leib des Herrn in aller ungeschönten Brutalität der Öffentlichkeit zuzumuten.

Die Erinnerung an diese bemerkenswerte Entwicklung bewahrt uns davor, uns zu schnell an den Anblick des Kreuzes zu gewöhnen. Es bleibt ein gewöhnungsbedürftiges Zeichen. Es gewinnt seine Kraft genau daraus, dass es zu steter neuer Auseinandersetzung provoziert.

Das Kreuz als Zeichen des Heils

„Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung“, das bekennen wir am Karfreitag. Ein gewagtes Bekenntnis. Denn das Kreuz verweist uns zunächst auf die Demütigung des Menschen Jesus Christus. Aber das Kreuz erinnert uns auch daran, wie dieser Jesus mit der ihm zugefügten Beschämung umgegangen ist. Gerade das Johannesevangelium schildert uns Jesus in der Passion nicht als hilfloses Opfer. Trotz aller Versuche, ihn seiner Würde zu berauben, lässt Jesus sich nicht beugen. In großer Souveränität geht er seinen Leidensweg bis zum Ende, selbstbestimmt. „Niemand entreißt mir das Leben, sondern ich gebe es von mir aus hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen“ (Joh 10,18), sagt Jesus. Weil er seine Ehre nicht aus der Anerkennung der Menschen bezieht (Joh 5,41), deshalb können Menschen ihm seine Ehre auch nicht nehmen. Jesus weiß sich gerade im Leiden von der Liebe seines himmlischen Vaters gehalten. Das gibt ihm die Kraft, die zugefügte Schmach zu ertragen. Im großen Tausch der Gefühle tauscht er die erlittene Beschämung nicht in Hass, sondern in Liebe. So wird das Kreuz zum Zeichen des Unheils und des Heils zugleich.

Die Kreuzenthüllung am Karfreitag als hochsensibler liturgischer Akt

Ein Letztes. Wir werden jetzt gleich das Kreuz im Rahmen des Gottesdienstes Stück für Stück enthüllen. Wir tun das mit Furcht und Zittern. Wir wissen um diesen äußerst heiklen gottesdienstlichen Akt. Wir stellen den Bloßgestellten noch einmal inmitten der Kirche bloß. Wir tun das nicht aus voyeuristischem Interesse wie die Gaffer unserer Tage. Wir lassen uns vielmehr mit dem Leiden des Herrn konfrontieren. So wird enthüllt, was Christus widerfuhr von Menschenhand.

Scham über die Beschämung des Herrn soll die Gottesdienstteilnehmer erfassen. Zugleich erinnern wir an das namenlose Leid ungezählter Menschen, denen man die Ehre und Würde genommen hat und bis zur Stunde noch nimmt. Schließlich aber wissen wir nur zu gut, dass wir uns vorwerfen müssen, auch selbst immer wieder andere bloßgestellt und beschämt zu haben.

Das enthüllte Kreuz will zur heilsamen Scham führen. Die Verehrung des Kreuzes mündet ein in die flehentliche Bitte um Vergebung unserer Schuld. Das enthüllte Kreuz fragt uns auch, ob wir ein mitfühlendes Herz haben, das den Schmerz nachempfinden kann, der dem Herrn zugefügt wurde und in ihm allen leidenden Schwestern und Brüdern weltweit. Das enthüllte Kreuz fordert nicht zuletzt dazu auf, keinen Menschen mehr zu beschämen. Denn Demütigung ist schlimmer als körperlicher Schmerz. Amen.