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Dokumentation

„Die Grenzen des Heils sind verschiebbar“

Predigt von Bischof Dr. Franz Jung beim Pontifikalrequiem für Landtagspräsidentin a. D. Barbara Stamm am Freitag, 14. Oktober 2022, im Würzburger Kiliansdom

Sehr geehrte, liebe Familie Stamm,

liebe Trauergemeinde,

„Die Grenzen des Heils sind verschiebbar!“ Mit diesem Wort könnte man das dramatische Evangelium überschreiben von der Begegnung Jesu mit der Kanaaniterin. Wenn mir in den vergangenen Tagen im Blick auf unsere heutige Feier immer wieder gerade dieses Evangelium in den Sinn kam, dann wohl deshalb, weil der Satz „Die Grenzen des Heils sind verschiebbar!“ auch über dem Leben von Barbara Stamm gestanden haben könnte. Die Parallelen zwischen der kanaanäischen Frau und Barbara Stamm sind für mich geradezu frappierend. Erlauben Sie mir für einen Augenblick, diesen Gedanken weiter zu entfalten. Fünf Punkte scheinen mir dabei besonders bedenkenswert.

Die nicht auf Rosen gebettete Frau

Ein erstes. Die kanaanäische Frau aus dem Evangelium ist eine Fremde. Sie gehört nicht zum auserwählten Volk. Sie darf sich nicht zu den privilegierten Adressaten des Heils zählen. Ähnliches ließe sich von Barbara Stamm sagen. Sie gehörte von ihrer Herkunft her nicht zum Establishment. Ihr Start ins Leben war alles andere als einfach. „Es stand nicht in meiner Geburtsurkunde, dass ich im Leben einmal solche Chancen bekommen würde“, sagte sie im Rückblick auf ihre frühe Kindheit, die geprägt war von der Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit. Was andere an selbstverständlicher Förderung und Unterstützung im häuslichen Umfeld erfahren, musste sie sich mühsam selbst organisieren.

Im Nachhinein scheint es wie eine glückliche Fügung, dass ihr der Einstieg ins Leben dennoch gelang über die Stationen von Familie, Pflegefamilie, Heimaufenthalten und Menschen, die ihr Potential erkannten und ihr helfend zur Seite standen, wie ihre damalige Religionslehrerin, die ihr durch ein Darlehen die Ausbildung zur Erzieherin ermöglichte. Nein, Barbara Stamm war wie die Frau im Evangelium nicht auf Rosen gebettet. Die harte Schule des Lebens musste sie früh durchlaufen. Das weckte in ihr den Wunsch, sich für andere einzusetzen. Zugleich stärkte es ihren Willen, dieses Ziel auch zu erreichen, und sei es gegen Widerstände.

Die frustrationstolerante Frau

Das führt uns zur zweiten Parallele zwischen der Kanaanäerin und Frau Stamm. Denn beide zeichnet eine hohe Frustrationstoleranz aus. Wer anderen helfen will, bedarf dieser Frustrationstoleranz. Im Evangelium schockiert uns Jesus mit der völlig empathielosen Art, mit der er die Kanaaniterin auflaufen lässt. Erst gibt er ihr gar keine Antwort und hüllt sich in abweisendes Schweigen. Dann begegnet er ihrem Drängen mit den dienstlichen Vorschriften, die es ihm unmöglich machen, ihrem Hilfeersuchen nachzugeben. Denn er ist nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Von Kanaanitern war nie die Rede. Der traurige Tiefpunkt der Begegnung ist erreicht, als Jesus sich zum Vergleich der Frau mit einem Hund hinreißen lässt, der sie in ihrer Würde verletzt und herabsetzt.

Was die Frau sich alles bieten lassen muss, ist jedem Bittsteller sattsam bekannt. Erst bekommt man keine Antwort. Dann wird man über die gesetzlichen Vorschriften belehrt, die keinerlei Spielraum eröffnen. Schließlich muss man sich abfertigen lassen, sofern man es immer noch nicht verstehen will.

Barbara Stamm war das alles nicht fremd, sei es aufgrund eigener biographischer Erfahrungen, sei es aufgrund ihres politischen Engagements für Menschen in Not. Das Argument, Hilfe wäre nicht möglich, weil gesetzlich nicht gedeckt, ließ sie nicht gelten. Selbst wenn es so war, lautete ihre Antwort: Dann muss das Gesetz eben geändert werden!

Das Spektrum der Menschen, die in den behördlichen Heilsplänen nicht vorgesehen sind, war in ihren Augen groß. Sie kämpfte um die Beibehaltung der Schwangerenkonfliktberatung, und scheute dabei auch die Konfrontation mit ihrer Kirche nicht. Sie setzte sich kompromisslos für Geflüchtete jedweder Herkunft ein. Auch und gerade nach dem schrecklichen Messerattentat in unserer Stadt trieb sie in unseren Gesprächen bis zuletzt die Frage um, wie Menschen mit schweren seelischen Belastungen geholfen werden könnte, um künftig solche Gewaltexzesse zu vermeiden. Um Menschen mit Behinderung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen zu können, engagierte sie sich in der Lebenshilfe. Dabei ging es ihr nicht nur um die qualifizierte Hilfe für solcherart belastete Menschen, sondern auch um die Stärkung ihrer pflegenden Angehörigen. Die Frauenförderung war Zeit ihres Lebens eines ihrer großen Themen. Der Blick auf ihr Lebensende erinnert uns schließlich daran, wie sehr sie sich für einen Ausbau der Palliativ- und Hospizhilfe stark gemacht hat.

Dass die Grenzen des Heils verschiebbar sind, war nicht nur ihre tiefste Überzeugung. Die Erfolge, die sie verbuchen konnte, zeigen bis heute, dass es ihr vielfach gelungen ist, diese Grenzen zugunsten der vielen Notleidenden tatsächlich herauszuschieben und wirksame Hilfe zu leisten. Das haben wir im Caritasverband des Bistums Würzburg oft genug erfahren dürfen. Ihr Engagement hat sicher dazu beigetragen, die Solidarität in der Gesellschaft zu verstärken und das soziale Netz zu verdichten.

Als Bischof von Würzburg bin ich ihr deshalb persönlich zu großem Dank verpflichtet. Diese tief empfundene Dankbarkeit darf ich heute aber auch im Namen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Caritasverbandes zum Ausdruck bringen.

Die kämpferische Frau

Neben ihrer Frustrationstoleranz zeichnete sie ihre kämpferische Natur aus. Auch das verbindet sie mit der Frau aus dem Evangelium. Bis zuletzt hat sie runde Tische organisiert, um Verantwortliche aus allen sozialen Aufgabenfeldern mit den politischen Entscheidungsträgern und den Vertretern der staatlichen Verwaltung zusammenzubringen. Das diente dazu, Einblicke in komplexe Zusammenhänge zu eröffnen, die die erforderliche Sensibilität wecken und Entscheidungsprozesse abkürzen.

Noch bis tief in die Nacht hat sie Telefondrähte zum Glühen gebracht, um eine ihrer Erkenntnis nach ungerechtfertigte Abschiebung zu verhindern und die betroffenen Personen wieder aus dem Flugzeug zu holen. Wenn sie helfen konnte und davon überzeugt war, dass mehr möglich ist und mehr getan werden muss, war sie sich wie die Kanaaniterin für nichts zu schade.

Die schlagfertige Frau

Im Evangelium überrascht uns die kanaanitische Frau mit ihrer Schlagfertigkeit und ihrem Witz. Als Jesus sie mit einem Straßenköter vergleicht, der vom Familientisch vertrieben werden muss, deutet sie kurzerhand das Bild Jesu um. Aus dem Straßenköter macht sie geistesgegenwärtig ein Schoßhündchen, dem die Kinder gerne etwas von der reich gedeckten Tafel zukommen lassen. Denn sie glaubt fest daran, dass es für alle reichen muss und reicht.

Auch Barbara Stamm verfügte über ein weitgespanntes Repertoire von Handlungsoptionen, die sie je nach den momentanen Gegebenheiten zu aktivieren verstand. Als überaus gesellige und fröhliche Person, die die Gemeinschaft schätzte, konnte sie auf witzige und charmante Art die erforderlichen Maßnahmen einfädeln und Menschen für sich und ihre Projekte einnehmen. Natürlich war ihr auch der langwierige Verhandlungsweg durch die politischen Instanzen nicht fremd, den sie mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit verfolgte. Sie scheute sich aber auch nicht, wenn nötig auf den Tisch zu hauen. Ihr Ziel war es, an das Gewissen der Verantwortungsträger zu appellieren, um der gerechten Sache Gehör zu verschaffen. Und ihr Wort hatte Gewicht, weit über Unterfranken hinaus! Klein beigegeben hat sie so gut wie nie, wenn sie denn von der Richtigkeit ihres Anliegens überzeugt war.

Die gläubige Frau

Ein letztes verbindet die Kanaaniterin mit Barbara Stamm. Es ist der unverbrüchliche Glaube daran, dass mit diesem Jesus mehr möglich sein muss. Ja, dass mit diesem Jesus mehr möglich sein muss als er es selbst vielleicht

ahnt. Denn für den, der in seiner Person Gott und Mensch miteinander verbindet, ist nichts unmöglich. Bisweilen muss man ihn selbst daran erinnern. Das zumindest denkt sich die Kanaaniterin. Ihr unverbrüchlicher Glaube verfehlt seinen Eindruck auf Jesus nicht. Er muss zugeben, solches Zutrauen in seine Person bislang nur selten gefunden zu haben. Als das Eis durch die Charmeoffensive der Kanaaniterin gebrochen ist, ergibt sich die erbetene Heilung ihres Kindes wie von selbst.

Mit diesem Jesus muss mehr möglich sein. Dieser Glaube hat auch Barbara Stamm gestärkt. Dieser Glaube hat sie motiviert, in ihrem Bemühen um wirksame Hilfe nicht nachzulassen. Wie der Kanaaniterin war es auch ihr fremd, vor Autoritäten einzuknicken oder in Ehrfurcht zu erstarren. Die Grenzen des Heils sind verschiebbar und sie müssen verschoben werden! Und so manches Mal muss man die Zuständigen daran erinnern, dass mehr möglich ist als auf den ersten Blick zu sein scheint.

Barbara Stamm hat gerne die Aufgabe übernommen, andere daran zu erinnern, dass mehr drin ist als man zu glauben geneigt ist.

Am Mittwoch vergangener Woche ist sie nun selbst nach längerem, tapfer ertragenem Leiden an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen und heimgegangen. Heute erfüllt uns die gläubige Zuversicht, dass derjenige, der uns durch die Menschwerdung in Jesus Christus den Himmel eröffnet hat, auch ihr den Weg in die Vollendung ebnet. Wovon sie selbst überzeugt war, möge ihr im Tod zur Gewissheit werden, dass nämlich die Grenzen des Heils verschiebbar sind, auch für sie persönlich: die Grenze nämlich vom Tod zum ewigen Leben in Gott. Bei dem, an den sie geglaubt, zu dem sie gebetet und auf den sie gehofft hat, ruhe sie nun aus von all ihren Mühen.

Danke, Barbara Stamm!