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Dokumentation

„Jesus stellt die gängigen Lebensgewohnheiten auf den Kopf“

Predigt von Domkapitular Clemens Bieber am Sonntag, 19. Februar 2023, im Würzburger Kiliansdom

Sicherheitskonferenz ist angesagt! 45 Staatsoberhäupter und Regierungschefs aus aller Welt sind in diesen Tagen in München versammelt und beraten über die aktuelle weltpolitische Lage, insbesondere infolge des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine und der Unruhen im Iran. Erschreckend ist die Tatsache, dass die Tagung viel zu kurz ist, um all die zahlreichen anderen Konfliktherde in allen Kontinenten in Blick zu nehmen. Dazu zähle ich auch die brandgefährlichen Bedrohungsszenarien wie z.B. das Atomprogramm in Nordkorea. Zumindest der humanitären Lage in den von gewaltigen Erdbeben betroffenen Gebieten der Türkei und Syriens wird noch ein wenig Aufmerksamkeit zugewendet. In der Tat, die Gefährdungen sind riesig groß!

Über einem der unzähligen Berichte über die Sicherheitskonferenz stand dick gedruckt zu lesen: „Der Kreml kann die Sicherheit aller zerstören!“ Darauf will ich kurz und knapp mit einem Wort antworten nämlich: „Nein!“ Nein deshalb, weil es nicht allein der Kreml ist, der unsere Sicherheit und unser friedfertiges Zusammenleben stört.

In der gleichen Nachrichtenübersicht an diesem Freitag stand ebenso zu lesen:

• „Angriff auf Polizisten mit roher Gewalt vor Disko.“ Rund 40 Menschen sind nach einem Streit in einer Diskothek auf herbeigerufene Polizeibeamte losgegangen.“

• „Flüchtlinge fühlen sich nicht sicher“. Aus Angst vor rechtsradikalen Angriffen sagt ein Dorf „Nein“ zur Unterbringung von weiteren Flüchtlingen. Diese fühlen sich nicht mehr sicher im Ort und wollen weg.

• „Razzia gegen 21 Männer wegen Verdachts auf Kinderpornografie“. Tatverdacht gegen fünf Jugendliche und 16 Männer im Alter zwischen 16 und 74 Jahren.

Die Beispiele genügen, um anzudeuten, dass die Welt nicht nur in ihren großen Zusammenhängen aus den Fugen geraten ist, sondern von Grund auf erschüttert und in Unordnung geraten ist.

„Eine tägliche Verrohung in allen Schichten“ – lautete die Überschrift in einem Kommentar über einen Anschlag in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei dem Unschuldige getötet wurden. Täglich wird von Gewalttaten in Familien berichtet. Teilweise tobt in ganzen Stadtteilen die Gewalt wie in der Silvesternacht – in Berlin oder in einem kleinen verträumten Rhön-Städtchen. Unzufriedenheit, Aggressionsgefühle, Gewaltfantasien, fehlender Sinn im Leben, und vielleicht eine psychische Erkrankung können letztlich nicht wirklich erklären, warum Menschen sich so unmenschlich gebärden oder für extreme Propaganda empfänglich sind.

„Es reicht nicht, ins Feuer zu spucken …, die Halbwertszeit der gesellschaftlichen Empörung wird immer kürzer. Wir brauchen endlich Widerspruch. Auch wenn es unbequem ist“, habe ich in einem Artikel gelesen. An dieser Stelle scheint es mir entscheidend wichtig zu klären, wogegen sich der Widerspruch richten soll, der für die Gesellschaft unbequem sein wird.

Es muss dabei in aller Offenheit um die Frage gehen, woher die „tägliche Verrohung in allen Schichten“ kommt. Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen, es geht um ein Problem der gesamten Gesellschaft. Deshalb sollten alle nachdenklich werden.

Ich möchte ein paar wenige Wahrnehmung nennen, die mit zur Verrohung beitragen:

• In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich das Menschenbild mehr und mehr verändert. Die Würde und Unantastbarkeit menschlichen Lebens werden immer mehr ausgehöhlt. Das beginnt mit der Selektion vor der Geburt und reicht bis zur Haltung, dem Leben aus vorgeblich „humanen“ Gründen, das Ende zu bereiten.

• Der Hochmut, der nur die eigene Hautfarbe, die eigene Nationalität, die eigene kulturelle und religiöse Prägung als richtig, gut und schützenswert erachtet, ist lebensgefährlich.

• Die Art und Weise, wie über Menschen geredet wird, gerade über Personen im öffentlichen Leben, ist vielfach erniedrigend – und zwar nicht nur in Kabarett-Shows.

• Der Unterhaltungswert durch Sendungen mit unzähligen Toten, die allabendlich über die Mattscheibe flimmern, prägt und trägt Folgen – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.

• Die zunehmende Aggressivität im Umgang miteinander, verbunden mit dem Anspruch „zuerst komme ich“, kennt kaum mehr Grenzen.

• Die inzwischen fast nicht mehr zu überbietende „Geiz ist geil“-Haltung führt auch dazu, Menschen mit Hilfs- und Unterstützungsbedarf oder mit Fluchterfahrung als Gefahr zu erachten, weil sie nur Geld kosten.

• Die nachlassende Solidarität in weiten Teilen der Bevölkerung und damit verbunden die Kommerzialisierung der sozialen Dienste fragt nicht mehr: „Wie kann ich Dir helfen?“, sondern „Was kann ich an Dir verdienen?“.

Das sind nur einige der Gründe, die den Boden bieten, auf dem ein letztlich menschenverachtendes Verhalten heranwächst. Das alles weist auf das für mich größte Problem hin, nämlich die Gottvergessenheit und damit den Verlust eines geistigen und geistlichen Fundaments, das unser Leben und ein friedvolles Zusammenleben trägt.

Wie einen Wink des Himmels erachte ich deshalb die biblische Botschaft dieses Sonntags. In der Lesung aus dem Buch Levitikus haben wir die Mahnung Gottes gehört, die Mose der Gemeinde der Israeliten weitergeben soll: „Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen.“ Menschen, die an Gott als den Schöpfer allen Lebens glauben, sind durch IHN miteinander verbunden und so auch Schwestern und Brüder.

Von daher stellt Jesus die gängigen Lebensgewohnheiten auf den Kopf, wie das Evangelium berichtet: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: …“ Bei ihm gilt also nicht: „Wie du mir, so ich dir!“ Von seinen Jüngern erwartet er, dass sie ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten großmütig und großherzig einsetzen, ohne sich ausnützen zu lassen. Jesus geht sogar so weit zu sagen: „Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?“

Von Kindesbeinen an hat sich mir das Wort eingeprägt, das von der Goldenen Regel Jesu abgeleitet ist: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu!“ Doch diese Haltung Kindern nahezubringen, ist seit Jahrzehnten verpönt! „Mein Kind soll sich einmal selbst entscheiden!“, ist immer wieder als Ausrede zu hören.

Bemerkenswert ist die Menschenkenntnis Jesu. Er weiß sehr genau, dass Unfrieden, Konflikte, Streit und Ausbeutung entstehen, wenn Menschen nur auf sich und ihren eigenen Vorteil bedacht sind. „Was fehlt dir?“, so kann ich nur dann fragen, wenn ich innerlich frei, nicht auf mich fixiert bin und mich angenommen und geliebt weiß.

Deshalb fühlten sich die Menschen in der Nähe Jesu wohl. ER wusste sich von Gott angenommen und geliebt und konnte deshalb den Menschen mit Aufmerksamkeit und Wertschätzung begegnen und mehr geben als sie von IHM erwarteten. Genau das ist es, wozu Jesus einlädt: nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nicht gegen- und aufzurechnen, sondern den anderen durch Großzügigkeit zu übertreffen.

Dazu fällt mir eine Begebenheit aus dem Leben von Klemens Maria Hofbauer ein. Er war der Wiener Seelsorger im 19. Jahrhundert. Er wollte ein Obdachlosenheim bauen und sammelte Geld dafür. Er ging in die Wiener Kaffeehäuser und hielt den Gästen seinen Hut hin. Dabei geriet er an einen Mann, der Wut auf die Kirche hatte. Dieser fuhr ihn an: „Wie kommen Sie dazu, mich um Geld zu bitten?“ und spuckte ihm ins Gesicht. Klemens Maria Hofbauer nahm sein Taschentuch, wischte sich die Spucke ab und sagte: „Das war für mich, und jetzt geben Sie noch etwas für meine Armen!“ Er hielt ihm den Hut erneut hin. Der Mann war so perplex, dass er ihm seinen ganzen Geldbeutel in den Hut warf.

Der Psychiater C.G. Jung hat bei seinen Studien herausgefunden, dass ein Mensch besonders unangenehm reagiert, wenn sein Gegenüber seine eigenen Fehler spiegelt. Der Mann, den Hofbauer um eine Spende bat, wurde vermutlich mit seiner eigenen ich-bezogenen Lebensweise konfrontiert und ist ausgerastet, weil er nicht daran erinnert werden wollte.

Umso wichtiger ist der Blick auf das, was der Evangelist Matthäus überliefert: Jesus fordert nicht, Jesus lädt ein. Er zeigt einen Weg heraus aus der Spirale von „Wie du mir, so ich dir“, aus der Spirale von Nutzen und Vorteil, von Gewalt und Gegengewalt. Jesus fordert nicht, Jesus lädt ein! Darum sind die Haltung und die Rede Jesu wirklich etwas Neues! Es heißt nicht: „Du sollst“, „Du musst“, „Du sollst nicht“, jetzt heißt es: „Probiere es aus“, „Riskiere es“. Es werden sich neue Möglichkeiten des Miteinanders auftun.

Das gilt auch für die Feindesliebe. Nicht nur das Christentum kennt sie, auch andere Religionen und Philosophien. Faszinierend aber ist, wie Jesus sie begründet. Nicht als moralische Weisung, nicht als verzweifelten Aufruf angesichts der sozialen Kälte oder der Gewalt in unserer Welt, sondern weil wir alle Kinder Gottes sind, die auch Verantwortung füreinander haben, deren Leben einander von Gott anvertraut ist. Von daher sehe ich den Menschen mir gegenüber mit anderen, mit verstehenden und barmherzigen Augen.

Wenn wir an die immer häufigeren Gewalttätigkeiten im Alltag, im Straßenverkehr, auf Bahnhöfen, in Zügen, selbst in Familien, unter Jugendlichen denken, dann wird deutlich, dass es sich um ein grundlegendes Problem handelt: „Eine tägliche Verrohung in allen Schichten … Wir brauchen endlich Widerspruch. Auch wenn es unbequem ist.“ Wir sollten uns schnellstmöglich der grundlegenden Debatte stellen. Wir sollten uns Gedanken machen um eine wert-volle Erziehung, um die Bedeutung religiöser Prägung, um das Signal, das von dem Grundsatz „in der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ausgeht, um die Erkenntnis, dass alle menschengemachte Ideologie letztlich nicht ausreicht, um in den Menschen Hoffnung und Zuversicht zu begründen. Wir brauchen eine „Sicherheitskonferenz“, die alle Bereiche des Lebens umfasst. Nur wenn die Menschen schon im unmittelbaren Miteinander friedvolle Wege zueinander finden, ist der Boden bereitet, von dem aus dann auch Wege zum Frieden in der Welt erwachsen. So besehen ist unsere sonntägliche Zusammenkunft im Gottesdienst eine „Sicherheitskonferenz“, in die Gott und die Menschen eingebunden sind.