Liebe Schwestern und Brüder,
wie ein Damoklesschwert schwebt die Erinnerung an die Zerstörung Würzburgs vor 70 Jahren über uns. Wie damals nach dem schrecklichen Bombardement die Luft geschwängert war von Rauch, Staub und Verwesung, so ziehen sich in diesen Tagen durch alle Medien Berichte, Erinnerungen und bleibender Schmerz. Viele unter uns, die älter als 70 Jahre sind, haben diesen traurigen 16. März 1945 noch erlebt und Zerstörung und Tod vieler Verwandte und Freunde ertragen müssen. Ich habe mir sagen lassen, dass viele zum Teil verkohlte Leichen hier in den Dom gebracht wurden und im nördlichen Seitenschiff zur Identifikation hingelegt wurden. Wie viele Tränen mögen hier vergossen worden sein!
Bei der Renovierung unseres Kilian-Domes haben wir dieses Ereignis bedacht und an der Stelle des Aufbahrungsortes einen kleinen Andachtsraum mit der Pieta eingerichtet, vor der Kerzen angezündet werden können, damit unserer Trauer und unserem fürbittenden Gedenken auch weiterhin Raum gegeben wird. Die Gestalt der Schmerzensreichen, der Muttergottes, die ihren toten Sohn auf dem Schoß trägt, drückt ihr Mitleiden mit den schrecklichen Geschehnissen in dieser Welt aus.
Durch die Kirchengeschichte hindurch schauen wir Menschen auf die Schmerzensreiche, in deren Schmerz über ihren gekreuzigten Sohn wir unsere eigene Not verankern können. Wer, wenn nicht sie, kann als Fürsprecherin bei Gott Hilfe in allen Nöten bringen?
Unsere heutige Zeit ist nicht einfacher und gerechter geworden. Der gesellschaftliche Umbruch, in dem wir stecken, bringt uns auch heute viele Sorgen und Nöte. Während zurzeit weltweit viele Kriege toben, Terrorgruppen Christen und andere Minderheiten terrorisieren, foltern, vertreiben und töten, verlieren Menschen ihre Heimat und suchen auch bei uns Schutz und Unterkunft. Wie damals können wir uns auch heute an die Pieta wenden, die ihren toten Sohn auf dem Schoß hält und sie um Hilfe bitten und für die Verstorbenen Fürbitte halten. Dabei dürfen wir uns aber nicht nur auf das Gebet verlassen, sondern alles in unseren Kräften Stehende tun, um die Not zu lindern.
Die kleine Pieta-Statue in dem neu geschaffenen Andachtsraum steht vor einem goldgefassten Hintergrund, in dem im obersten Bereich ein kleines Kreuz herausgeschnitten ist. Dies will uns sagen, dass das Leid dieser Welt von der Gottesmutter in ihrem göttlichen Sohn vor Gott getragen und im Himmel bei Gott in Freude verwandelt wird. Das Kreuz als Marterwerkzeug wird zum Siegeszeichen über Schmerz und Tod. Die rußgeschwängerte Erdenzeit wird in die strahlende Vollendung ewigen Glückes überführt.
In der Lesung aus dem Buch Jesaja hörten wir eben: „So spricht der Herr: Seht, ich erschaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Nie mehr hört man dort lautes Weinen und lautes Klagen.“ Unser Dom ist ein beredtes Zeugnis der Wanderschaft durch die tränenreiche Geschichte hindurch mit allen Verwundungen und Blessuren. Hier können wir den Glauben unserer Vorfahren ablesen, ihr Leid, aber auch ihre Zuversicht. Denn der Dom ist nicht nur ein Ort der irdischen Zuflucht, den viele Menschen während der Kriegszeit und auch am 16. März 1945 aufgesucht haben, sondern ein Ort der Begegnung mit Gott. Hier können wir unseren Schmerz, unsere Fragen und Zweifel ablegen und Gott unsere seelische Armut zu Füßen legen. Deshalb wurde der Dom nach dem Krieg wieder aufgebaut und als Wegkirche vom Schöpfungsportal bis hin zur Darstellung der Wiederkunft Christi ausgerichtet.
Die im Evangelium erwähnte Heilung des königlichen Beamtensohnes in Kafarnaum verweist auf den Glauben des Vaters an die Wirkkraft Jesu. Er unterschied sich darin von vielen Mitmenschen, die in ihrem Unglauben einer Wundersucht anhingen, die Jesus streng verurteilte. Mag der Glaube des königlichen Beamten auch noch nicht ausgereift gewesen sein, auf Grund dieses Heilungserlebnisses wurde er später mit seiner ganzen Familie gläubig. „Geh, dein Sohn lebt!“, sagte Jesus dem leidenden Vater. Sagt er das - im Blick auf die Ewigkeit - nicht auch uns? Unsere Verstorbenen leben. Das ist die Kernbotschaft unseres Glaubens.
Liebe Schwestern und Brüder,
auch wir verlangen immer wieder nach Zeichen und Wundern. Möge uns in diesem wieder aufgebauten Dom das eine oder andere Zeichen geschenkt werden, damit wir unseren Glauben an das Weiterleben nach dem Tode nicht vergessen, sondern aus dieser Hoffnung heraus unseren Mitmenschen bei ihrer Angst und in ihrer Trauer beistehen und unsere Verstorbenen im Gebet nicht vergessen.
Gott hat uns eine Wohnung bei sich bereitet. Mögen alle Kriegstoten, alle unsere Verstorbenen, dort einst mit uns zusammen eine ewige Heimat finden. Amen.