Liebe Schwestern und Brüder!
„Wo das Absurde herrscht, kann nur die Liebe siegen.“ Dies sagt einer, der das Absurde kannte, der es in Sprache gebracht hat: der Schriftsteller Albert Camus, fast noch ein Zeitgenosse (1913 – 1960). Absurdität meint die Ungereimtheit und Widersinnigkeit, die sich im Leben auftun kann.
Wir bringen das Leben oft nicht zusammen, spüren allenthalben wie widersprüchlich das Leben sein kann; dass wir uns keinen Reim auf Geschehnisse machen können; dass vieles oft sinnlos erscheint. Wir erfahren das in der großen und kleinen Welt, im Öffentlichen wie im Privaten, wenn das Leben nicht so läuft, wie wir es geplant und gedacht haben: In der Krankheit – warum ich, warum ihr, warum jetzt? Oder im Beruf – trotz aller Qualifikation keine Lebensqualität. Oder in unseren Beziehungen – alles aufgegeben, um glücklich zu sein, und dann ist doch alles verloren, ist doch alles zerbrochen. Und in der großen Welt sieht es nicht anders aus mit all ihren Nöten und Problemen, Konflikten und Kämpfen. Wir vermögen so viel, sind augenscheinlich mächtig, doch letztendlich machtlos. „Wo das Absurde herrscht, kann nur die Liebe siegen.“ Wir kommen mit dem Leben nur zurecht, wenn wir das Fragwürdige, Brüchige, Widersprüchliche annehmen, liebend annehmen.
Im Kurort Assy in den französischen Alpen wurde in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von der Künstlerin Germaine Richier (1902-1959) ein Gekreuzigter geschaffen. Wie all ihre Arbeiten haben sie in der Regel nichts Schönes. Sie haben immer etwas Zerfasertes, Verwesliches, Befremdliches an sich. Sie sind nicht mehr Abbild des Menschen in Glanz und Vollkommenheit, sie sind Denkmal im ursprünglichsten Sinn, Anregung zum Nachdenken.
Der Kruzifixus, den sie 1950 fertigte, steht der Gemeinde zugewandt vor dem Altar. An einen Pfahl geheftet ist eine große menschliche Gestalt, die aber kaum noch einem Menschen gleicht. Deutlich ist ein gekreuzigter menschlicher Körper zu sehen, der mit einer leidenschaftlichen Gebärde die Arme ausbreitet. Die Gestalt ist nur noch ein Rest eines nackten menschlichen Körpers, verdorrt und ausgebrannt. Er gleicht den verbrannten Körpern in Kriegen und Katastrophen.
Die Kirche von Assy ist ein Raum voll mit wunderschönen, farbenprächtigen modernen Kunstwerken. Die wollte man sehen. Aufgrund von Protesten der Besucher wurde das Kreuz von Richier entfernt. Es waren nicht die Gemeindemitglieder oder die Kranken des Lungensanatoriums, die sich verletzt sahen. Die die Schönheit gestört sahen, beschwerten sich. Später wurde das Kreuz wohl wieder aufgestellt aufgrund der Bitten aus der Gemeinde. Eine Kommission im Vatikan gab den Gemeindemitgliedern und Kranken Recht. Der da am Pfahl hängt, verweist auf den gekreuzigten Christus. Das Leben ist eben nicht einfach schön, es ist ehr oft schön schwer. Der Gekreuzigte inmitten der schönen Kunst bringt unsere Risse, Brüche und Zerwürfnisse zur Sprache. Der da am Kreuz zeigt die Wahrheit und ist die Wahrheit, weil Liebe das Unvollkommene, das Zerbrochene, das Verletzte annimmt.
„Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30) ruft der Herr am Kreuz im Johannesevangelium. Es ist das letzte und endgültige Zeichen im Evangelium, dass Gott es gut mit uns meint, dass wir ihm nicht egal sind, dass seine Liebe unser oft so absurdes Leben besiegt. Im Nachtgespräch des Suchers Nikodemus, dann wenn in den Nächten des Lebens uns die Fragen nicht schlafen lassen, gibt Jesus ihm und uns die Antwort: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16). Damit eben nicht das Absurde herrscht, sondern dass es beherrscht wird. Der Herr nimmt am Kreuz all unser Scheitern und Versagen, unser Unvermögen und unsere Ohnmacht auf sich, um unser Leben zu verwandeln, zu retten, neu auszurichten. So wie die Nähe eines liebenden Menschen uns schon gut tut, so möchte der Herr am Kreuz mit seiner Liebe unser Leben zum Guten führen und vollenden. Amen.